Rekrutieren ist das neue Verkaufen. Doch wer ist verantwortlich?
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„Rekrutieren ist das neue Verkaufen. Doch wer ist verantwortlich?“
Recruiting heute: Neue Machtverhältnisse
Menschen zusammenzubringen — das ist nach über zwei Jahrzehnten in der Staffing-Welt noch immer spannend und erfüllend. Der Bewerbermarkt hat sich grundlegend gewandelt: Eine Anzeige zu schalten und abzuwarten, dass das Telefon klingelt, reicht längst nicht mehr. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten, Kandidaten anzusprechen, vielfältiger denn je. Wer diese Kanäle nutzt, hat die Nase vorn. Problematisch wird es, wenn alte Rezepte auf neue Anforderungen angewendet werden, HR weiterhin als Verwaltung wahrgenommen wird und Prozesse statt Menschen im Mittelpunkt stehen.
Alltagsfrust: Jobangebote — aber keine Bewerber/innen?
Aus der Praxis: Viele Unternehmen klagen über fehlende Bewerber, schlechte Qualität der Bewerbungen und Unzuverlässigkeit. Erinnerungen an die vermeintlich „guten alten Zeiten“ (viele Anrufe auf eine Anzeige) werden gern verklärt — ohne Blick auf die Unbequemlichkeiten früherer Zeiten (kein Internet, Fax/ Festnetz etc.). Fakt ist: Der Markt hat sich zu einem Bewerbermarkt gedreht. Für 82 % der Befragten (StepStone) ist „geeignete Kandidaten finden“ die größte Herausforderung. Gleichzeitig sind inzwischen auch einfache Helferstellen in manchen Regionen schwer zu besetzen.
Hausgemachte Probleme: Viele Defizite im Recruiting sind selbst verschuldet — etwa Bewerber/innen am Telefon mit „Senden Sie uns Ihre Unterlagen, wir melden uns“ abzuweisen oder Kandidaten mit unpersönlichen Standardfragen zu verprellen. Solche Praktiken treiben gute Kandidaten weg.
Der Markt ist nicht leer — er ist anders
Zwar gibt es weniger händeringend Arbeitssuchende als früher, doch von einem flächendeckenden „leergefegten“ Markt kann nicht die Rede sein. Konkrete Zahlen (Beispiel: Anfang 2024) zeigen weiterhin Millionen erwerbsfähige Menschen mit Leistungsbezug; hinzu kommen latent Wechselwillige. Studien (Gallup u. a.) zeigen: Ein großer Teil der Beschäftigten ist offen für einen Wechsel — das Potenzial ist vorhanden, es muss nur anders angesprochen werden.
Kernaussage: Es gibt Kandidaten — aber sie sind meist nicht aktiv suchend. Active Sourcing und Empfehlungsmarketing sind deshalb zentrale Hebel.
Provokante Fragen an Ihre Recruiting-Praxis
Beantworte ehrlich:
- Kannst du jedem Bewerbenden (initiativ oder auf Anzeige) einen Job in Aussicht stellen?
- Hast du einen strukturierten Talentpool?
- Wie hoch ist die Abbruchquote im Bewerbungsprozess?
- Wie gut ist eure Empfehlungsrate?
- Wie intensiv pflegst du den Kontakt zu ehemaligen Mitarbeitenden?
- Gibt es individualisierte Karrierepläne für Mitarbeitende?
- Wie sichtbar ist dein Unternehmen in Stadt/Branche?
Wer diese Fragen ehrlich beantwortet, erkennt meist: Es fehlt nicht allein an Bewerbern, sondern an Strategie, Prozessen und Haltung.
Recruiting = Akquise: Warum das Sales-Denken nötig ist
Recruiting ist inzwischen Verkaufen: Kandidaten sind Kunden. Viele HR-Verantwortliche sehen aktive Ansprache skeptisch („Das wollen die Leute nicht“). Studien zeigen jedoch, dass Empfehlungen und Karrierenetzwerke zunehmend genutzt werden — Active Sourcing ist etabliert. Wer aktive Kandidatenansprache ablehnt, sabotiert den Erfolg.
Wichtig: Neues Handeln braucht neues Denken — und oft auch Budget und Management-Support. Die Grundhaltung gegenüber Bewerbern muss sich ändern: Weg von bürokratischem Abfertigen, hin zu Kundenorientierung und Wertschätzung.
Generationen, Klischees und Realität
Generationenmodelle (Babyboomer, Gen X, Y, Z) liefern gern Stereotype, die Recruiting-Mythen befeuern. Empirisch sind viele Unterschiede überzeichnet; drei echte Unterschiede bestehen jedoch: Umgang mit Social Media, Corona-Prägungen und bevorzugte Kommunikationsformen. Mobile Recruiting und Ansprache über LinkedIn, XING & Co. sind noch nicht überall ausgereift — hier liegt Potenzial.
Rollenwandel: HR muss verkaufen lernen
Sätze wie „Ich bin Recruiter, kein Vertriebler!“ zeigen Widerstände. Doch wer zukünftig erfolgreich sein will, braucht Verkäufermentalität im HR: proaktive Ansprache, Überzeugungskraft, Servicementalität. Unternehmen sollten bei HR-Einstellungen explizit Vertriebs-/Kommunikationskompetenz und Verkaufsbereitschaft berücksichtigen.
Gleichzeitig braucht es neue Rollen und Skills im HR:
- Eigenmotivation und Handlungsorientierung
- Betriebswirtschaftliches Denken
- Kontaktfreude und Kommunikationstalent
- Empathie und Servicementalität
- Frustrationstoleranz
- Offenheit für KI und digitale Tools
- Corporate Influencer (sichtbare Mitarbeitende als Markenbotschafter)
Praxis: Was sich bewährt hat (Lessons Learned)
Klarheit dank Mystery Shopping
Analysen und Tests des Bewerbungsprozesses zeigen Schwachstellen und verbessern die Candidate Journey.
Mitarbeiterzufriedenheit messen
Digitale Mitarbeiterbefragungen und Gesundheitschecks liefern Hinweise zur Bindung.
Neue und kreative Kandidatenansprache
Active Sourcing, One-Click-Bewerbungen, Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter, Social-Media-Kampagnen: viele kleine Maßnahmen, konsequent umgesetzt, bringen mehr als große, ungenutzte Pläne.
Der erste Touchpoint zählt
Qualität des Erstkontakts entscheidet über Absprungquoten. Schulungen für alle Mitarbeiter mit Kandidatenkontakt schaffen Gastgebermentalität.
Strategisches Empfehlungsmarketing
Empfehlungen sind kostengünstig und effektiv — auch absagende Kandidaten können wertvolle Empfehlungsgeber sein.
Bewerbungsgespräche auf Augenhöhe
Kandidat = potenzieller Partner. Höflichkeit, Transparenz und individuelle Vorbereitung sind Schlüssel zur Candidate Experience.
Candidate Experience verbessern
Schnelligkeit, Transparenz und Wertschätzung sind die drei Säulen einer positiven Jobreise — ergänzt durch professionelles Onboarding.
Konsequente Bewerberbindung
Talentpools pflegen, Kontakt zu „Zweiten Reihen“-Kandidaten halten, Alumni-Beziehungen stärken.
Performance Recruiting & KPIs
Erfolg misst man wie im Sales: Quality-of-Hire, Time-to-Hire, Retention Rate, Größe der Talentpipeline etc. Nur messbare KPIs ermöglichen Controlling und Budgetplanung.
Handlungsempfehlungen — kurz und konkret
- Denke Recruiting als Sales-Prozess. Active Sourcing und Empfehlungsmarketing priorisieren.
- Verbessere den ersten Touchpoint. Schulung aller Mitarbeiter mit Kandidatenkontakt.
- Implementiere Talentpools. Nutze sie bevor du die nächste Anzeige schaltest.
- Messe, was zählt. Definiere KPIs und tracke Time-to-Hire, Quality-of-Hire, Retention.
- Fördere Employer Branding intern. Alle Mitarbeitenden sind Markenbotschafter.
- Stelle HR mit Vertriebs-Skills ein. Achte bei Einstellungen auf Kommunikations-/Überzeugungsstärke.
- Experimentiere mit Kanälen. Social Media, One-Click-Bewerbung, KI-Unterstützung testen.
- Change beginnt oben. Geschäftsführung muss neuen Kurs vorleben und Ressourcen bereitstellen.
Fazit
Recruiting ist nicht mehr rein Verwaltung — es ist aktiver Marktauftritt, Kundenansprache und Markenbildung. Wer weiter „mehr vom Gleichen“ tut, wird verlieren. Wer jedoch Recruiting als Verkauf begreift, Prozesse menschenzentriert gestaltet und die gesamte Organisation einbindet, hat entscheidende Vorteile. Es geht um Haltung, Skills und Messbarkeit — Schritt für Schritt, Hand in Hand.
Hinweise zur Autorin
Nicole Truchseß — Gründerin und Geschäftsführerin der Truchseß & Brandl GmbH.
25 Jahre Erfahrung als Personal- und Vertriebsleiterin; 16+ Jahre mit eigenem Team in Potenzial- und Prozessanalysen, Auswahlverfahren sowie Sales- & Recruiting-Optimierung.


